Leben im Kinderdorf – Stigmatisierung oder Interesse?
Laut Duden beschreibt die Biografie die Lebensgeschichte, den Lebenslauf, eines Menschen. Die logische Folge dieser Beschreibung ist es nun, dass kein Mensch ohne eine Biografie existiert. Niemand kommt davon los, egal, welche Einstellung er dazu hat. Doch wie offen und öffentlich geht jeder Einzelne damit um?
„Wenn die Leute hörten, dass ich aus dem Kinderdorf komme, wurden mir gleich bestimmte Eigenschaften zugeschrieben. Das ging vielen von uns so. Bei mir waren es glücklicherweise überwiegend positive Dinge. Andere haben aber auch schlechte Erfahrungen gemacht.“ So beschreibt Maria*, die in den 70er Jahren im Kinderdorf lebte, ihre Erfahrungen. Sie hat auch später nie verschwiegen, wo sie aufgewachsen ist und war mit dieser Einstellung mit sich und ihrer Biografie im Einklang. Doch wie ist das für andere ehemalige „Kinderdörfler“?
Einige Menschen, die zum Teil bis zu 15 Jahre im Kinderdorf gelebt haben, waren bereit, sich dazu zu äußern.
Stolz aufs Kinderdorf
„Die Leute, die mich kannten, wussten natürlich, dass ich im Kinderdorf wohne. Das war für mich aber auch ganz normal. Fremden habe ich das nicht erzählt. Das ging die ja nichts an. Und für die Arbeit war das nicht wichtig. Da kannte mich jeder, denn ich hab’ ja bis zur Rente im Kinderdorf gearbeitet. Richtig schlechte Erfahrungen waren nie dabei. Und wen das störte, der brauchte ja nichts mit mir zu tun haben.“
Ingrid, in den 60er Jahren im Kinderdorf


Als Kinderdorfkind in der Bewerbungsphase
„Bei meinem Bewerbungsgespräch für eine Lehrstelle wurde ich nach meinen Eltern gefragt und habe dann erzählt, dass ich schon mehr als zehn Jahre im Kinderdorf lebe. Der Chef guckte mich ganz intensiv an und ich dachte schon: ‚Das war’s jetzt, der nimmt dich nicht.‘ Ich bin dann nach Hause gefahren. Am nächsten Tag war er bei uns und ich hatte die Lehrstelle. Seine Begründung: Ich sei nicht sein erster Lehrling aus dem Kinderdorf und er habe bisher nur gute Erfahrungen gemacht. Und die hat er dann beschrieben. Da wusste ich: Ich hatte im Kinderdorf vieles für die Zukunft gelernt. Und so bin ich mein ganzes Leben lang damit umgegangen: nicht herausposaunt, aber auch nie etwas verschwiegen.“
Franz*, ab Anfang der 60er für zwölf Jahre im Kinderdor[gap size=“4em“ id=““ class=““ style=““]
„Mit Mama meine ich meine Kinderdorfmutter“
„Ich habe gute und schlechte Erfahrungen gemacht. Im Laufe der Jahre habe ich gelernt, wo ich meine Zeit im Kinderdorf besser nicht erwähne. Aber nicht, weil ich mich dafür schäme. Ich habe einfach keine Lust auf die blöde Reaktion der Leute. Aber in meinem Freundeskreis wissen alle davon und auch, dass ich mit Mama meine Kinderdorfmutter meine.“
Ruth*, von 2003 bis 2016 im Kinderdorf[gap size=“4em“ id=““ class=““ style=““]


Auch schlechte Erfahrungen gehören dazu
„Ich habe sehr viele Jahre im Kinderdorf gelebt und gute und schlechte Erfahrungen gemacht. Aber meine Familie und ich gehen ganz normal damit um und es hat mir nie geschadet.“
Michaela, in den 90er Jahren im Kinderdorf
Leibliche Kinder von Kinderdorfmüttern und Kinderdorfeltern
Seit einigen Jahren gibt es aber auch Kinder/Jugendliche, die als Sohn oder Tochter von Kinderdorfmüttern oder Kinderdorfeltern im Kinderdorf leben. Wie ist es für sie?
„Die Leute, die mich kennen, wissen, dass ich im Kinderdorf lebe. Ich sage das nicht allen sofort, aber ich mache auch kein Geheimnis daraus. Das gehört ja zu meinem Leben. Für mich ist das heute in Ordnung. Und wenn jemand etwas nicht versteht, kann er mich ja fragen.“
Jens, 17 Jahre, Schüler und in eine bestehende Kinderdorffamilie hineingeboren.

Die mit * versehenen Namen wurden auf Wunsch geändert.
Autorin: Marlene Altevers