Kirche in der Wohngruppe: Glaube und Religion im Kinderdorf

Kirche in der Wohngruppe

Warum gehen wir eigentlich sonntags immer in den Gottesdienst? Warum beten wir vor dem Essen? Wer ist dieser Jesus eigentlich?

Sätze wie diese hören die PädagogInnen im Bethanien Kinderdorf immer wieder mal, wenn es darum geht, gemeinsam an einer Messfeier teilzunehmen. Denn viele unserer Kinder kennen aus ihrer Herkunftsfamilie keine kirchlichen Rituale oder sind in ihrem sozialen Umfeld nicht zwingend mit Religion in Berührung gekommen.
Seien wir ehrlich: Es ist eine herausfordernde Aufgabe für die Fachkräfte in den Wohngruppen, religiöse Rituale ansprechend und interessant zu gestalten und es ist für die Kinder und Jugendlichen nicht leicht, sich auf diese Angebote einzulassen.
Gehören die leiblichen Eltern anderen Glaubensgemeinschaften an, kann das Kind auch in einen Loyalitätskonflikt geraten.

Warum tun wir es dennoch? – Der Background des Kinderdorfes

Religiöse Angebote und Rituale und die hierdurch entstehende Atmosphäre einer Einrichtung bieten nachweisbare Chancen für die Persönlichkeitsentwicklung der Heranwachsenden. Spiritualität und Religiosität leisten einen bedeutenden Beitrag zur psychischen Gesundheit. Eine solche Spiritualität und Religiosität müssen jedoch zunächst entwickelt werden und hierfür braucht es Erfahrung. Glaube – so ist unsere Überzeugung – kann nur durch persönliche Erfahrung entstehen und entdeckt werden. Hierfür braucht es Angebote und Gelegenheiten.
Unser Ziel ist es, durch religiöse Angebote im Kinderdorf spirituelle Formen und Orte zu bieten, die ein „zu sich selbst kommen“, ein „sich selbst finden“, möglich und gleichzeitig Gemeinschaft erlebbar zu machen. Außerdem bieten sie eine Antwortmöglichkeit auf persönliche Sinnfragen. So wird gelebte und erlebte Religion zu einem identitätsfördernden Moment.
Über die Jahre hat sich in den Bethanien Kinder- und Jugenddörfern eine große Vielfalt an Möglichkeiten, Religion zu vermitteln und gemeinsam zu erfahren, entwickelt: Religiöse Kinderwochen, Jugendgebete, biblisches Kochen für Mitarbeiter, Pilgertage, aufwändig gestaltete Feste und Gottesdienste und vieles mehr. Auch im Alltag der Kinderdorffamilien bzw. Wohngruppen werden durch ansprechende Rituale, wie z.B. Tischgebete oder das gemeinsame Gestalten von Gottesdiensten, Berührungspunkte geschaffen.

Religion in der Wohngruppe: Mitbestimmung und Mitgestaltung erhöhen die Akzeptanz

Wie in allen pädagogischen Bereichen, ist auch in der Religionspädagogik Mitbestimmung und Mitgestaltung die entscheidende Voraussetzung für Motivation. Die Offenheit und Aufmerksamkeit der Kinder und Jugendlichen steigt, sobald sie aktiv Verantwortung übernehmen. Wird das Tischgebet von einem Kind vorgelesen, so verändert dies die Atmosphäre positiv und Widerstände werden abgebaut.

In der heilpädagogischen Wohngruppe Haus 9 setzten wir auf eine Kombination aus Freiwilligkeit und Verbindlichkeit. Der Besuch besonders gestalteter Messfeiern ist als Gruppenaktion verbindlich. Ebenso der gemeinsame Messbesuch an besonderen christlichen Feiertagen. Derart niederschwellige Verbindlichkeiten sollen nicht als verordnete Religiosität wahrgenommen werden, sondern als Wertschätzung gemeinschaftlichen Zusammenlebens. Die entscheidende Auseinandersetzung mit den erlebten Inhalten benötigt persönliche Vorbild – rollen und Gesprächsangebote. Die PädagogInnen sollen den Kindern und Jugendlichen vermitteln, wovon sie persönlich überzeugt sind.
Erst, wenn es uns als PädagogInnen gelingt, diese Fülle an Möglichkeiten und Erfahrungen zu vermitteln und somit zugänglich zu machen, können die bei uns aufwachsenden jungen Menschen eine eigene spirituelle Persönlichkeit entwickeln.

Beim Schreiben dieses Beitrages ist uns bewusst geworden, dass wir es hier mit einem gesellschaftlich relevanten und in der heutigen Zeit auch stark umstrittenen Thema zu tun haben. Das Feld der Religionspädagogik ist ein vielschichtiges und komplexes. Es gilt, Gegensätze sowie unterschiedliche Meinungen und Einstellungen zu akzeptieren, zu moderieren und auszuhalten. Religionspädagogik in der stationären Kinder- und Jugendhilfe ist ein anspruchsvolles Thema, das sowohl Chancen wie auch Risiken birgt und in dessen Umsetzung es oft kein eindeutiges Richtig oder Falsch gibt. Wir sind jedoch davon überzeugt, dass es sich lohnt, wenn wir uns als Fachkräfte dieser Herausforderung stellen.
Larissa Stupp und Michael Schumacher, Team Haus 9

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